Ahoi, MiMi!
„Herr Direktor! Ein Schwarzspitzen-Riffhai fehlt im Aquarium!“
Mario, der Tierpfleger vom Haus des Meeres in Wien, war außer sich. So etwas war ihm in all den Jahren noch nie passiert. Die Frage war nur: Wie konnte der kleine freche Hai entwischen? Und wer war ihm dabei behilflich? Herr Direktor Mitic veranlasste sofort eine Befragung der Tiere im Aquarium. Puppi, die grüne Meeresschildkröte und älteste Bewohnerin, ihr entgeht normalerweise nichts, verplapperte sich siehe da ein wenig. Sie fühlte sich gleich schuldig, dem kleinen Hai vielleicht einen allzu großen Floh ins Ohr gesetzt zu haben; was da draußen so vor sich geht und dass die Donau ihn direkt zum Schwarzen Meer und von dort aus über den Bosporus zum Mittelmeer bringen könnte, wenn man nur der Strömung folge. Der kleine Hai sei eben sehr neugierig gewesen und sie habe sich nichts dabei gedacht. Warum er dann die Flucht ergriffen habe, das konnte sie sich auch nicht erklären. Herr Direktor Mitic blieb gelassen und gab Mario den Auftrag, die Ruhe zu bewahren und den Vorfall genauestens zu rekonstruieren.
An die Wiener Wasserschutzpolizei wurde eine Suchmeldung herausgegeben: Haus des Meeres sucht einen Schwarzspitzen-Riffhai! Vorsicht, er könnte gefährlich werden! Besondere Kennzeichen: Rückenflossen und Schwanzflosse mit schwarzer Spitze markiert.
In Mistelbach stiegen gerade MiMi mit ihrer neuen Freundin Zoe und ihrem Papa, Kapitän Köppen ins kleine Faltboot, um einen gemütlichen Tag auf der Zaya zu verbringen. Die Sonne schien und die Besatzung wollte bis zum frühen Nachmittag bis zur Flussmündung der March in aller Ruhe schippern. Plötzlich klingelte das Telefon und Kapitän Köppen bekam eine ernste Miene. „Was?“, antwortete er, „Das ist ja ein Ding! Gut, wir sind gerade auf dem Wasser und werden auch Ausschau halten, Herr Direktor.“
„Kinder!“, sagte Kapitän Köppen, „Wir haben einen Auftrag bekommen. Ein Schwarzspitzen-Riffhai ist aus dem Haus des Meeres entkommen und will sich in Richtung Schwarzes Meer durchschlagen oder eher gesagt durchschwimmen. Wenn ihr also eine kleine schwarze Spitze aus dem Wasser ragen seht, dann haben wir den Ausreißer gefunden.“
„Oh!“, riefen MiMi und Zoe, „Das wird ja heute richtig spannend!“
Und los ging es. Kapitän Köppen startete den Motor und die beiden Mädchen übernahmen die Suche, Zoe schaute Steuerbord (rechts) und MiMi Backbord (links).
„Haltet euch gut fest! Wir fahren so schnell als möglich die Zaya entlang, biegen dann in die March ein und in Bratislava werden wir die Donau erreichen. Nach meinen Berechnungen müssten wir dort dem Ausreißer begegnen!“, rief Kapitän Köppen den beiden Mädchen zu. Der kleine Motor heulte auf und schon ging es mit voller Geschwindigkeit den Flusslauf entlang. Das Wasser spritzte in ihre Gesichter und mit einer scharfen Rechtskurve bogen sie nach einer guten halben Stunde in die March ein. Hier war der Fluss schon viel breiter und MiMi und Zoe sperrten ihre Augen noch weiter auf, damit ihnen ja nichts entging.
In Wien war die Wasserschutzpolizei bereits in Alarmbereitschaft gesetzt worden. Zwei Schnellboote fuhren die Donau auf und ab und durchsuchten auf der österreichischen Seite das gesamte Flussgebiet. In der Slowakei waren inzwischen ihre Kollegen informiert worden und bildeten einen großflächigen Sperrbereich, um den Ausreißer an der Grenze abzufangen. Jeder Wasserschutzpolizist hielt seine Augen offen und man wartete auf ein Zeichen.
Im Haus des Meeres in Wien stellte sich Direktor Mitic die Frage: Wie konnte der Schwarzspitzen-Riffhai überhaupt das Aquarium und dann noch das Haus des Meeres verlassen? Nachdem Puppi nochmals vom Tierpfleger Mario befragt wurde, kam die Vermutung auf, dass bei dem letzten Tauchgang im großen Aquarium ein junger Meeresbiologe mit seinem Tauchanzug eventuell zum unwissenden Transporteur für den raffinierten Ausreißer gemacht wurde. Puppi gab nämlich zu, dass sie den Schwarzspitzen-Riffhai zuletzt am Taucher gesehen hatte. Er habe mit dem „Neuen“, wie sie ihn nannten, gespielt und ihn höchstwahrscheinlich ein wenig ausgetrickst. Und, Puppi gab auch noch zu, dass sie dem Hai ihre Atmung unter Wasser und an der Luft erklärt und beigebracht habe. Sie hatte sich eben nichts dabei gedacht, dass er so neugierig und ausgesprochen talentiert gewesen sei. Stück für Stück setzte sich langsam das Puzzle der Flucht zusammen. Im Souvenirshop berichtete eine Mitarbeiterin, dass bei einem Plüsch-Hai der Preiscode gefehlt habe und sie sich auch wunderte, dass der Fisch, den sie auf den Ladentisch gelegt hatte, sich nicht so flauschig anfühlte. Sie hatte sich aber nichts dabei gedacht und das Tier als großen Weißen Hai für Euro 39,90 verkauft. Es war so viel los und da ist man eben bemüht, schnell zu sein. Leider wurde der Kauf mit Bargeld abgewickelt, so dass die Spur hier endete. Jetzt konnte man nur noch davon ausgehen, dass der Schwarzspitzen-Riffhai auf irgendeinem Wege rechtzeitig die Donau erreichen konnte, ohne dabei ums Leben zu kommen. Denn eine derart lange Phase ohne Wasser konnte sich schon äußerst bedenklich auf seinen Allgemeinzustand auswirken.
MiMi, Zoe und Kapitän Köppen waren in der Zwischenzeit auf der Donau in Bratislava angekommen. Die beiden Mädchen hielten immer noch Ausschau, während Kapitän Köppen sich mit der Wasserschutzpolizei der Slowakei in Verbindung setzte, um Neuigkeiten in Sachen Hai-Fahndung auszutauschen. „Mädels!“, sagte er und seine Stimme klang besorgt, „Er ist nirgendwo gesichtet worden. Ich frage mich, ob er es überhaupt vom Haus des Meeres in die Donau geschafft hat. Das wäre ein kleines Wunder.“ MiMi antwortete, „Wenn man etwas will, dann schafft man es auch.“ „Ja!“, stimmte Zoe ihr zu, „Papa, wir werden ihn finden und ihn zurückbringen.“
„Natürlich! Ich werde auch nicht so schnell aufgeben. Immerhin sind wir bis hierher in einer Rekordzeit gekommen.“
Plötzlich entdeckte Zoe etwas Auffälliges am rechten Donauufer. „Schaut mal! Da drüben liegt eine Meerjungfrau!“
„Und neben ihr liegt etwas langes Graues!“, rief MiMi.
„Wir werden etwas dichter heranfahren, um uns das genauer anzuschauen.“, sagte Kapitän Köppen. „Wann bekommt man schon eine Meerjungfrau zu sehen!“, fügte er schmunzelnd hinzu. Sie fuhren mit dem Faltboot in Richtung Ufer, als plötzlich das lange graue Ding mit einem Sprung im Wasser verschwand. Die kleine Meerjungfrau rief noch hinterher, „Kleiner Hai, wo willst du hin? Ich muss dir doch noch den Weg zeigen!“
„Das ist er!“ riefen MiMi und Zoe aufgeregt. „Wir haben ihn!“
„Wer seid denn ihr?“, rief die kleine Meerjungfrau den Kindern zu.
„Wir sind vom Haus des Meeres. Da wo der kleine Hai eigentlich herkommt.“, antworteten die beiden Mädchen.
„Oh, das hat er mir gar nicht erzählt.“, erwiderte die Meerjungfrau, „Er wollte von mir nur den Weg in Richtung Schwarzes Meer wissen.“
„Hat er noch etwas gesagt oder gefragt?“, wollte Kapitän Köppen wissen.
„Er war auf einmal da, schaute mich von oben bis unten an und meinte, dass er so etwas wie mich noch nie gesehen hätte. Dann habe ich ihm gesagt, dass ich ein Model bin und auf meinen Fotografen warte. Das konnte er nicht so ganz verstehen, fragte mich nur nach dem Weg zum Schwarzen Meer, doch bevor ich ihm antworten konnte, hat er wohl euch gesehen, weil er dann wieder ins Wasser gesprungen ist und ich konnte nur noch hören, ‚Den kenne ich doch! `.
„Danke für die Auskunft.“, antwortete Kapitän Köppen und wandte sich den beiden Mädchen zu. „Kinder, der Schwarzspitzen-Riffhai lebt. Das ist das Wichtigste und ob wir ihn wieder einfangen können, das bezweifle ich, ehrlich gesagt. Er ist zu klug und zu schnell.“
„Und was machen wir jetzt?“, fragten die beiden Mädchen, „Können wir ihn nicht überreden wieder mitzukommen?“
„Ich glaube, der ist so wie ihr zwei.“, erwiderte Kapitän Köppen, „Wenn ihr euch etwas in den Kopf gesetzt habt, dann wollt ihr es mit aller Macht durchsetzen. Stimmt´s? Und bei dem Hai ist es nicht anders. Er ist jung und neugierig und ziemlich schlau und wenn er es bis hierher schon geschafft hat, dann sollten wir ihn einfach ziehen lassen. Vielleicht rufen wir ihm noch hinter, dass er jederzeit im Haus des Meeres willkommen ist.“
MiMi und Zoe wurden nach dieser Ansage etwas traurig, aber sie verstanden es. Sie riefen zusammen ganz laut übers Wasser in alle Richtungen, „Du kannst jederzeit wiederkommen! Wir warten auf dich! Gute Reise!“
Und für eine Millisekunde tauchte dicht neben dem Faltboot eine kleine schwarze Spitze aus dem Wasser auf und es sah beinahe so aus, als ob der kleine Hai ihnen zuwinkte. Dann verschwand die kleine schwarze Spitze wieder und es war weit und breit nichts mehr von ihm zu sehen.
Kapitän Köppen setzte sich mit Direktor Mitic vom Haus des Meeres in Verbindung und berichtete, was vorgefallen war. Der Direktor bedankte sich für die Mithilfe und war der gleichen Meinung: einen Reisenden sollte man nicht aufhalten. Die Suchaktion wurde abgebrochen. Die Wasserschutzpolizisten in der Slowakei und in Österreich schüttelten alle nur mit den Köpfen. So etwas hatten sie noch nie erlebt. Eine Haiflucht mit Happy End? Am Tag darauf konnte man auf einer Tafel direkt neben dem großen Aquarium folgendes lesen:
Am 8. Juli 2024 gelang es einem Schwarzspitzen-Riffhai aus unserem Aquarium auf rätselhafte Weise die Flucht über die Donau ins Schwarze Meer. Von dort wird er mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit über den Bosporus ins Mittelmeer gelangen. Von dort könnte er sich über den Suezkanal in das Rote Meer in Richtung Indischer Ozean absetzen. Wir wünschen unserem Ausreißer eine gute Reise und freuen uns, wenn er wieder zurückkommt. Vielen Dank für die Mithilfe an MiMi & Zoe. Das Team des „Haus des Meeres“.
„MiMi?“, fragte Zoe, „Meinst du, ob er wieder zurückkommt?“
„Hhmm?“, antwortete MiMi, „Wenn er uns noch gehört hat, dann vielleicht. Er weiß jetzt, dass niemand auf ihn sauer sein wird. Wenn aber nicht, dann wird er immer geradeaus schwimmen bis…“
„Bis was?“, unterbrach sie Zoe, „Bis er vielleicht auf einen von seiner Familie trifft.“
„Wird er da jemand finden?“, fragte sich Zoe laut.
„Ich glaube schon. Das hat er in sich. Ich weiß nicht wo, aber er hat es.“, antwortete MiMi.
„Stimmt!“, erwiderte Zoe, „Kinder spüren immer, wer ihre Eltern und Geschwister sind.“
„Zoe?“, fragte MiMi, „Kommst du zu meinem Festival, die Internationalen Puppentheatertage in Mistelbach Ende Oktober? Ich lade dich und deine Familie ein. Dann können wir allen Kindern und Eltern von unserem Abenteuer erzählen. Ich habe nämlich so eine Idee. Man könnte so einen Bastelbogen mit Faltboot und allen Figuren machen: du, ich, dein Papa und die Meerjungfrau, die keine echte war und natürlich mit dem Star der Geschichte der Schwarzspitzen-Riffhai.
„MiMi!“, antwortete Zoe, „Das ist eine super Idee! Ich werde all meine Freunde einladen. Ja, unsere Geschichte ist wirklich unglaublich!“
Drei Wochen nach diesem Ereignis machte der Tierpfleger Mario am Indischen Ozean Urlaub. In seinem wunderschönen Dorf gab es die Möglichkeit, mit einem hochseetauglichen Schiff einen kleinen Ausflug aufs offene Meer zu machen. Mario ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, ging an Bord und als es mitten auf dem Meer zu einem kleinen Stopp kam, da geschah etwas eigenartiges. Ein kleiner Haifisch tauchte auf, schwamm um das Schiff herum und machte auf sich aufmerksam, als ob er mit der Besatzung spielen wollte. Mario kombinierte sofort, sah sich den kleinen Haifisch etwas genauer an. Tatsächlich, es war der Schwarzspitzen-Riffhai aus dem Haus des Meeres. Mario rief ihm zu. „Hey, du kleiner Ausreißer. Wie geht es dir? Willst du nicht wieder zu uns kommen?“
Die Leute auf dem Schiff schauten ihn etwas verwundert an. Eine Frau bemerkte, „Oh, ist der Fisch ein Verwandter von ihnen? Sie unterhalten sich so nett mit ihm.“
Mario antwortete, „Sie werden es nicht glauben, aber diesen Haifisch kenne ich sehr gut.“ Die Dame schlug die Hände über dem Kopf zusammen und rief, „Na, sie sind ja einer!“
Mario musste lachen. In diesem Augenblick sprang der kleine Schwarzspitzen-Riffhai in einem hohen Bogen aus dem Wasser, stupste Mario mit der linken Seitenflosse kurz an und tauchte wieder unter. „Ein Wunder!“, rief die Dame, „So etwas habe ich noch nie gesehen.“
Mario war selbst von der Kunstfertigkeit überrascht und dachte sich, ‚Vielleicht vermiss er uns alle in Wien. Das regelmäßige Futter und das gute Miteinander im Aquarium. Hier draußen weht doch ein ganz anderer Wind`.